… zum Blog „Der Rückkopplungs-Effekt bei Hochsensiblen“.
Liebe Julia,
Eine Freundin von dir schrieb im oben genannten Blog, der Umgang mit Hochsensiblen sei überhaupt nicht schwierig, sondern außerordentlich angenehm. Besonders dem zweiten Teil der Aussage schließe ich mich mit Freuden an, doch der erste Teil stimmt zumindest für mich nicht so ganz; das direkte Umfeld von Hochsensiblen muss einiges lernen und manchmal auch einiges ertragen…
Wieso ich hier schreibe? Weil ich denke, dass ich vielleicht für beide Seiten ein paar wertvolle Anstöße geben kann…
Was geht denn alles in mir normalsensiblen Menschen vor, wenn der hochsensible Mensch gegenüber, den man sehr mag, schlecht drauf ist? – Wie wirkt sich die schlechte Stimmung und das Sich-Selbst-Nicht-Mögen des Hochsensiblen auf mich selber aus?
Schlechte Stimmung von lieben Menschen in der direkten Umgebung sorgt auch bei mir als Normalsensiblen für einen Rückkopplungs-Effekt. Natürlich will man wissen, was los ist. Vor allem will ich ja auch helfen oder trösten. – Und noch schlimmer: Ich beginne, diese Stimmung auf mich selber zu beziehen: Was habe ich falsch gemacht; habe ich was Dummes gesagt? – Und wenn dann meine Stimmung kippt oder meine Ratlosigkeit offenkundig wird, sorgt das für einen weiteren Rückkopplungs-Effekt beim hochsensiblen Menschen (ab jetzt „du“ genannt), der jetzt auch noch für meine Stimmung verantwortlich ist und sich deswegen nur noch schlechter fühlt. Blöd…
Es gibt so ein paar Standard-Situationen, die zu bösen Fallen werden können:
— Erstes Beispiel: Ich laufe dir morgens über den Weg, habe mich darauf gefreut, dich zu treffen, habe jede Menge Neuigkeiten und Geschichten zu erzählen, laufe bildlich gesprochen über und merke, dass dich das alles nicht interessiert oder erreicht: Scherze kommen nicht an, lustige Geschichten (‚Ach, das wollte ich dir noch erzählen…‘) laufen ins Leere und vor allem merke ich, dass du den Kontakt (insbesondere den Blickkontakt) zu mir meidest. Autsch! Das tut weh! – Ich frage mich sofort: Was hab ich denn jetzt wieder falsch gemacht? Gestern war doch alles gut!?
— Zweites Beispiel: Ich merke, dass die Stimmung nicht gut ist, versuche ein aufmunterndes Lächeln oder einen lieben Blick und merke, dass das bei dir gar nicht ankommt. – Aua! Was ist denn los? Ich will dir doch zuhören, trösten, helfen, …
Nun kippt meine Stimmung auch. Dann helfen mir ein paar Tipps, damit klarzukommen und die Zeit zu überbrücken, bis es dir wieder besser geht. Denn bei dir kommt ja nach dem Regen bald der Sonnenschein zurück und da werde ich dann reichhaltig entschädigt… 😉
Was ich bisher gelernt habe:
— Es geht ja gar nicht gegen mich! Ich darf dein Verhalten nicht auf mich beziehen. Ich habe höchstwahrscheinlich gar nichts falsch gemacht, kann aber jetzt tatsächlich Fehler vermeiden.
— Wenn ich dir helfen will, muss ich mit anderen Mitteln helfen: Mich selber zurückziehen, vielleicht kann ich dir ja eine Zeit lang aus dem Weg gehen.
— Mich selber zurücknehmen. Auch wenn ich jetzt gerne mit dir reden oder blödeln möchte, verschiebe ich das einfach auf unbestimmte Zeit. Ich muss einfach einen anderen Rhythmus mit dir lernen. Meine Geschichte und Scherze kann ich mir ja aufheben; die kommen irgendwann dann auch wieder besser bei dir an…
— Schweigen! Jaja, gar nicht nachfragen, so schwer es auch fällt. Damit mir das gelingt, muss ich dir sagen oder zeigen, dass ich da bin und jederzeit bereit bin, dir zu helfen, zu trösten oder zuzuhören – oder zu schweigen (ja, das müssen wir noch üben!). Wichtig ist mir, zu wissen, dass du weißt, warum ich mich jetzt selber zurückziehe und dass ich trotzdem für dich da bin!
— Routine! Es fällt mir sehr schwer, eine wie auch immer geartete Art von Routine zu leben, wenn es dir schlecht geht! Aber ich kann es ja versuchen. Auch das können wir noch üben.
— Achtung! Ich muss auch auf mich selber achtgeben! Ich muss mich selber schützen und zurückziehen. Antennen einfahren und in den Ruhemodus schalten…
Es war gar nicht so einfach, diese neuen Erkenntnisse zu erlangen und vor allem auch umzusetzen – es ist eine ständige Übung – wie Etüden-Spielen in der Musik! Das dauert ein Weilchen und klappt auch leider nicht immer. Aber es wird mit der Zeit immer besser, wenn man sich in solchen Situationen aufeinander einschwingt.
Aber noch viel wichtiger ist, gegenseitiges Vertrauen zu fassen, um sich gegenseitig zu verstehen und Verletzungen zu vermeiden. Auch Normalsensible können einiges von dem verstehen, was in Hochsensiblen vorgeht. Bilder wie der Knautschball oder Beispiele von konkreten Situationen können dabei gut helfen.
Nur wenn die direkte Umwelt von Hochsensiblen den hochsensiblen Menschen zumindest teilweise versteht, kann diese Umwelt auch entsprechend reagieren und unterstützen.
Vor allem müssen auch diese Überstimulations-Phasen gemeinsam verstanden werden. Wenn man diese Situationen vorher oder nachher durchspricht und analysiert, kann man gemeinsame Wege finden, damit umzugehen. Das gemeinsame Lernen kann ja auch für beide Seiten sehr bereichernd und spannend sein!
Wir haben ja schon viel gelernt; hier ein paar Beispiele. Da kommt sicher noch mehr; aber das ist schon einmal ein Anfang.
— Early Warning! Du hilfst mir ungemein, mich frühzeitig oder gar vorher irgendwie zu informieren, dass heute nicht dein Tag ist. Sag mir einfach, dass ich dich heute in Ruhe lassen soll. Das tut zwar durchaus weh, aber wenn du das nicht tust, renne ich ins offene Messer und das ist noch viel schmerzhafter für uns beide.
— Klare Ansage! Sag einfach, ob und wie ich dir helfen kann oder wie ich agieren soll. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich böse bin, wenn du mich wegschickst; du brauchst auch keine Sorge zu haben, dass ich deine Bedürfnisse nicht verstehe; vor allem brauchst du dich in Phasen, in denen es dir schlecht geht, nicht darum zu kümmern, ob es mich schmerzt, was du sagst oder tust, denn ich kann abstrahieren und ich kann deine Stimmung einordnen.
— No Mask! Du brauchst mir gegenüber nie eine Maske aufzusetzen. Ich mag deine Maske nicht, denn das bist nicht du! Dass du die Maske anderen gegenüber brauchst, weiß ich und verstehe ich ja, aber bei mir brauchst du sie nicht! – Vor allem sehe ich dann später auch gleich, wenn es dir wieder besser geht!
— Shut Up! Sag mir einfach, wenn ich schweigen soll. Wir können auch gemeinsam schweigen lernen… – Und wenn du Ruhe brauchst, sag das einfach! Ich bin dann still und zieh mich gegebenenfalls zurück!
— Don’t Explain! Du brauchst mir nichts erklären, wenn es dir nicht gut geht! Ich weiß doch schon genug von dir, um zu verstehen und um ohne Worte einfach da zu sein. Du brauchst bei mir keine Angst vor dem Erklären haben, denn ich habe ja schon verstanden, dass du in dieser Situation nichts erklären kannst und willst.
— Talk to Me! Ich weiß, dass du in der akuten Überstimulation nicht darüber reden kannst. Aber ich denke, du solltest nicht immer alles mit dir selber ausmachen! Sprech doch – sofern es geht – einfach über das, was dich bedrückt, lass die Gedanken überlaufen oder die Tränen fließen; lade einfach ein wenig von dir ab, was auf dir lastet; das wird dir vielleicht helfen und dafür sind doch Freunde da! Ich werde schon merken, wann ich etwas dazu sagen soll und wann ich einfach nichts sagen soll… – Das wird sicher nicht immer etwas bringen, aber manchmal, so hoffe ich, wird dir das helfen!
— Do it Together! Lass uns gemeinsam weiterlernen; so kann der gegenseitige Umgang nur besser und immer angenehmer werden!
Was ich aber immer noch nicht weiß, ist, wie ich dir helfen kann, dich wieder selber zu mögen, wenn du dich nicht mehr magst. Schade, dass es nicht einfach hilft, dir zu sagen, warum ich dich mag (das würde aber auch ein ziemlich langer Monolog werden)! – Oder vielleicht hilft dir das Bild von dem Topf mit den vielen bunten Steinen, die schöne Erlebnisse und positive Erfahrungen widerspiegeln.
Was mich persönlich betrifft, habe ich nicht nur im Umgang mit dir viel gelernt. Seit wir über das Thema Hochsensibilität sprechen, werde auch ich wieder viel empfindsamer und aufmerksamer, nehme viel mehr Gefühle in mir wahr und partizipiere und profitiere sehr von deiner Hochsensibilität. Ich nehme wieder viel mehr Nuancen im Miteinander und im Leben allgemein wahr und kann die schönen Dinge im Leben noch intensiver genießen. Insofern möchte ich mich doch der Aussage deiner Freundin anschließen: Der Umgang mit dir ist überhaupt nicht schwierig, sondern außerordentlich angenehm! 🙂
Ein Freund.