Vorsicht – langer Beitrag. Ihr könnt auch nur das Fettgedruckte lesen und dann entscheiden, was euch interessiert.
Es wäre so wunderbar einfach und würde mir ein gutes Gefühl geben, wenn ich meine Hochsensibilität meinem Gegenüber mit selbstbewusster, warmer und einladender Stimme erklären könnte:
„Also, …nach den Forschungen von Dr. Elaine Aron befinden sich ungefähr 20% Hochsensible unter uns. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein feinfühligeres Nervensystem haben und so offener und empfänglicher für Umwelteinflüsse sind, egal ob positiv oder negativ. Unter diese Art von Reizen fallen: Geräusche, Düfte, gutes Essen, chaotische Situationen, Schönheit, Schmerz,… Hochsensible tendieren dazu diese sensorischen Reize tiefer zu verarbeiten als Normalsensible. Hochsensibilität kann ein Segen sein – größte Freude und Genuss. Allerdings ist sie manchmal auch ein Fluch und fordert mich so manchesmal heraus. Ich genieße es sehr, mich mit anderen Hochsensiblen zu treffen, Erfahrungen auszutauschen und so die vielen entstehenden Netzwerke zu nutzen.“ (Jacquelyn Strickland)
Ach – das wäre wirklich ein Segen, wenn es denn nur immer so einfach wäre. Ich habe in letzter Zeit recht viele Erfahrungen gesammelt, um mich, meine Bedürfnisse und auch Hochsensibilität zu erklären. Es kommt immer darauf an, was man erreichen möchte, wie es mir in diesem Moment selbst geht (wie kreativ und kommunikativ fühle ich mich gerade um Rückfragen beantworten zu können), wen man vor sich hat und wie das Gespräch verläuft…
Der Inhalt dieses Blogbeitrags ist übrigens über ein Mind-Map entstanden (ich liebe Mind Maps!!!) – falls es euch interessiert, habe ich mein Gekritzel einfach mal abfotografiert 😉 Ein Klick aufs Bild vergrößert dieses.
So – wie fange ich jetzt am besten an – hm…
Es ist von folgenden Fragestellungen auszugehen:
1) Besteht überhaupt eine Notwendigkeit, meine Hochsensibilität zu erklären?
2) Ist es vielleicht sogar besser, sie im Moment nicht zu erklären sondern evtl. auf einen späteren, passenderen Zeitpunkt zu verschieben?
3) Wem möchte ich Hochsensibilität erklären?
4) Wie erkläre ich Hochsensibilität (falls ich mich dazu entschlossen habe, diese zu erklären)?
Am besten gehe ich jetzt alle Punkte 1-4 durch und erkläre nach und nach, ob und wie man Hochsensibilität erklären könnte/sollte.
zu 1) Besteht überhaupt eine Notwendigkeit, (meine) Hochsensibilität zu erklären?
Wieso sollte ich gerade jetzt meinem Gegenüber Hochsensibilität vermitteln? Welche Gründe und Bedürfnisse stehen hier im Vordergrund? Ist es überhaupt notwendig, den Begriff der Hochsensibilität zu verwenden?
Also: Mit der Zeit habe ich für mich ein recht gutes Gefühl dafür entwickelt, ob ich meinem Gegenüber diesbezüglich etwas mitteile. Es ist zum Beispiel unbedingt erforderlich, falls der Gegenüber von mir etwas möchte (z.B. Kollege) und ich gerade aus Gründen der Reizüberflutung nicht so reagieren kann, wie ich normalerweise reagiere. Dann formuliere ich meine Bedürfnisse in Form eines Wunsches bzw. Vorschlages, um mir selbst gerecht zu werden – ohne jedoch den Begriff der Hochsensibilität an sich zu verwenden (z.B. Könnest du das Fenster bitte wieder schließen? Könnten wir das Meeting auf morgen früh verlegen? Könnten wir eine kurze Pause machen/Kaffee holen gehen?…). Ich spreche mein Bedürfnis aus – und das ist es letztendlich was zählt. Viele verstehen Hochsensibilität oft falsch, wenn sie zum ersten Mal von diesem Begriff hören. Hier ist Vorsicht angebracht. Deshalb ist es zuerst immer vernünftig, seine eigenen hochsensiblen Bedürfnisse zu kennen und Wünsche zu formulieren, um diese Bedürfnisse zu kommunizieren. Dies ist manchmal gar nicht so einfach. Deshalb ist es erstmal besser, bei seinen Bedürfnissen zu bleiben, als sich an der Erklärung für Hochsensibilität aufzuhalten.
Wenn ich merke, mein Gegenüber selbst ist hochsensibel bzw. könnte hochsensibel sein, und ein Hinweis darauf würde dieser Person tatsächlich weiterhelfen können, dann entschließe ich mich in letzter Zeit immer öfter, Hochsensibilität als solches zu erklären. Denn nur so kann demjenigen geholfen werden, mit sich und der Welt besser zurechtzukommen. Es ist doch ganz normal, wenn ich als Hochsensible Ausschau nach „Artverwandten“ halte – diese sind übrigens auch relativ oft im BurnOut und Depressionsumfeld zu finden. Ein paar Fragen meinerseits lassen mich dann wissen, wie mein Gegenüber zumindest ungefähr tickt. Diese Chance will ich nicht an mir vorbeiziehen lassen. Ob derjenige meine Worte dann für sich nutzt, sei ihm überlassen – aber hinwerfen will ich demjenigen den Knochen dann schon 😉 Man kann dieser Person auch anbieten, Informationen per Mail zukommen zu lassen, wie z.B. ein Link auf einen HS-Test oder die Erst-Info vom IFHS. Weitere Informationen suchen sich diejenigen Personen dann schon selbst.
Enge Freunde haben ein Recht zu wissen, was mit mir los ist und was mich gerade so beschäftigt. Deshalb habe ich mich entschlossen, meinen engsten Freunden und Familienmitgliedern meine neue Charaktereigenschaft zu erklären. Hat bisher auch wunderbar funktioniert, da ich wusste, sie hören zu. Normalsensible können die Gedankengänge und Verarbeitungsprozesse nur schwer nachvollziehen – aber zuhören tun sie dann schon 😉 Das Gute daran ist, dass man in prekären Situationen, wie z.B. bei großen Festen, Feiern oder zu vielen Reizen Kontaktpersonen in der Nähe hat, die einen verstehen – vor allem, die dann nicht mehr so genervt nachfragen, warum man auf einmal so ruhig ist oder genervt wirkt. Die Auswirkungen der Reizüberflutung erklären sich dann von selbst und man hat die Kraft zum Erklären gespart – ist bei einer Überstimulation tatsächlich sehr hilfreich.
Was ich auch sehr wichtig finde ist, ab und an mal bei Ärzten, Psychotherapeuten oder Coaches nachzufragen, ob sie schon mal etwas von Hochsensibilität gehört haben. Da kann ich den Begriff dann sofort verwenden, ohne doof angeschaut zu werden (sofern ich Vertrauen zum Gegenüber verspüre). Einfach nur so als Trigger und interessehalber, ob der Terminus schon beim Fachmann vorbeigekommen ist oder nicht. Ich war sogar schon bei meinem Hausarzt mit diesem Thema und meine mitgebrachten Infoblätter hat er dankbar entgegengenommen. Allerdings weiß ich nicht wirklich, ob es ihn tatsächlich interessierte – aber: er hat dann schon mal davon gehört. Das Wissen in diesen Fachkreisen ist leider noch unglaublich gering.
zu 2) Ist es vielleicht sogar besser, sie im Moment nicht zu erklären sondern evtl. auf einen späteren, passenderen Zeitpunkt zu verschieben?
Wenn ich das Gefühl habe, mein Gegenüber ist eher eine unsensible Person oder gar eine narzisstisch veranlagte Persönlichkeit werde ich mich hüten, Hochsensibilität zu erklären. Außerdem muss ich das Gefühl haben, dass die Situation jetzt für mich stimmig ist und ich auch in der Stimmung bin, das Ganze in Ruhe und mit Verstand erklären zu können. Die Zeit muss da sein und bei meinem Gegenüber muss ich das Gefühl haben, er hört mir zu – das Vertrauen und ein gutes Gefühl meinerseits muss da sein. Ansonsten komme ich nicht in die Erklärbär-Stimmung 🙂 Ich möchte schließlich auch auf Rückfragen antworten können. Und das kann ich nur, wenn ich voll bei mir selbst bin.
zu 3) Wem möchte ich Hochsensibilität erklären?
Ich persönlich habe schon diversesten Gruppen meine Bedürfnisse bzw. Hochsensibilität an sich erklärt. Meistens ist es ein Gespräch unter vier Augen – das ist mir am liebsten.
Ich selbst hatte das Bedürfnis, folgenden Personengruppen meine neu entdeckte Charaktereigenschaft näher zu bringen:
– meinen Eltern
– engen Freunden
– engen Kollegen
– meinem Chef
– unwissenden / schlafenden Hochsensiblen
– BurnOut / Depressionserkrankten (Vorsicht: hier soll nicht der Anschein entstehen, jeder an BurnOut oder Depressionen Erkrankte wäre hochsensibel. Dies ist nicht meine Absicht. Meine Meinung ist nur, dass es evtl. sinnvoll sein könnte, für sich zu schauen, ob man mit den Eigenschaften von Hochsensibilität etwas anfangen kann. Falls ja, eröffnet das einem ganz andere Ansichten, Möglichkeiten und bessere Heilungschancen.)
Ich selbst muss allerdings aufpassen, dass ich nicht zum Hochsensiblen-Papst mutiere – ich brenne gerade sehr für dieses Thema und bin versucht, die gesamte Welt damit zu beglücken, weil es mir selbst sehr viel gibt. Von daher: Ball flach halten, liebe Julia! Eine weitere Eigenschaft vieler Hochsensibler: Begeisterungsfähigkeit – jaja 😉
zu 4) Wie erkläre ich Hochsensibilität (falls ich mich dazu entschlossen habe, diese zu erklären)?
Man kann natürlich den Begriff an sich sofort verwenden, oder man benutzt Synonyme, wie wahrnehmungsstark, Vielfühler, feinfühlig, … oder man formuliert nur seine eigenen hochsensiblen Bedürfnisse ohne die Hochsensibilität oder Wahrnehmungsstärke ins Gespräch einfließen zu lassen.
Dann gibt es natürlich verschiedene Art und Weisen, wie man das Konstrukt der Hochsensibilität seinem Gegenüber am besten erklärt – man möchte ja, dass derjenige es auf seine Art und Weise versteht – das ist die große Kunst!
Es kommt darauf an, wem ich es erklären möchte, welche Auffassungsgabe dieser hat und ob er mit dieser Information überhaupt etwas anfangen kann.
Kreativen Menschen und anderen Hochsensiblen komme ich meist mit der Bildersprache, mit Metaphern. Diese erkläre ich ganz am Schluss dieses Beitrages, weil sie etwas ausführlicher sind.
Es gilt grundsätzlich die Regel: Mit kurzer Erklärung anfangen und warten – warten auf die Reaktion meines Gegenübers. Erst dann kann ich einschätzen, ob es denjenigen überhaupt interessiert, ob er Rückfragen stellt oder ob diese Situation ihm einfach nur peinlich ist und ich am besten schnellstmöglich das Thema wechsle. Auch schon passiert 😉
Die Art der Erklärung kann tatsächlich das Auswendiglernen des ersten Abschnitts dieses Blogbeitrages sein, der alle Fakten auf den Punkt bringt. Oder man kann sich auch an Elaine Arons DOES-Indikatoren entlanghangeln. Für mich persönlich ist das die Variante, um keine Punkte zu vergessen und das Thema etwas schwammiger zu halten. Wenn man anfängt, einzelne Punkte aufzuzählen, wie z.B. ich begeistere mich immer unheimlich für kleine Blümchen am Straßenrand oder ich bin immer zu aufgeregt, wenn ich neuen Situationen gegenüberstehe, dann besteht die Gefahr, dass mein Gegenüber diese konkreten Beispiele generalisiert und für sich das Thema Hochsensibilität sofort abhakt. Hier nun also das Akronym DOES von Elaine Aron (auch nachzulesen in der Masterarbeit von Markus Pilgerstorfer):
D epth of Processing – Tiefe Informationsverarbeitung, tiefere Verarbeitung von inneren und äußeren Reizeinflüssen, langes Nachhallen positiver und negativer Erfahrungen/Ereignisse
O verstimulation – durch die erhöhte und intensivere Reizverarbeitung kommt ein Hochsensibler schneller in den Zustand der Überstimulation
E mpathy and Emotional Responsiveness – hohe Empathie, Einfühlungsvermögen für meine Mitmenschen; emotionale Berührbarkeit. Hochsensible zeigen stärkere Gefühlsreaktionen auf positive und auf negative Reize.
S ubtle to Stimuli – feinfühligere Reaktion auf sensorische Umweltreize, Sinnesreize – alles, was mit Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen zu tun hat – auf positive und negative Art und Weise
Seit ich dieses Akronym kenne, verwende ich dieses als eine Art Eselsbrücke, um Hochsensibilität zu erklären – ich finde es einfach sehr hilfreich.
So – hier kommen nun noch die Metaphern, die bildhaften Geschichten, mit denen man Hochsensibilität noch erklären bzw. sein Selbstverständnis dafür erhöhen kann – viel Spaß beim Lesen:
– Knautschball
– Ein Schwamm, der alles aufsaugt, wirklich alles…
– Auflösung in der digitalen Fotografie: Ein digitales Foto mit hoher, gestochen scharfer Auflösung benötigt in der Verarbeitung im Gehirn hohe Rechenleistung und viel Speicherkapazität. Diese Eindrücke stehen Normalsensiblen nicht zur Verfügung, weil diese Dichte und Intensität an Sinnesdaten ausgefiltert werden. Hochsensible Wahrnehmung ist angeboren und funktioniert bei jeder Reizwahrnehmung, was ein Ignorieren der hohen emotionalen Empfänglichkeit unmöglich macht.
– Orangenplantage (Elaine Aron): Wenn ein Normalsensibler Orangen erntet, schüttet er alle gepflückten Orangen in eine Sortiermaschine. Seine Sortiermaschine besitzt genau 3 Löcher: Ein kleines, ein mittleres und ein großes. So – wenn ein Hochsensibler Orangen erntet, schüttet er auch alle in eine Sortiermaschine, die aber 16 Löcher besitzt. Es ist eine viel „feinfühligere“ Maschine als die des Normalsensiblen.
– Erfühlen: Es ist wie wenn ich etwas Neues mit 50 Fingern auf einmal erfühle/erfahre – im Gegensatz zu einem Normalsensiblen, der „nur“ mit 10 Fingern auskommen muss…
–> Viel mehr Eindrücke in der gleichen Zeitspanne
– Bienenstock: Stell dir einfach mal vor, dein Kopf wäre ein Bienenstock und die Blütenpollen, die von den Bienen in den Bienenstock transportiert werden, wären die Informationen, die tagtäglich auf dich einströmen.
Dein Bienenstock hat genau 3 Eingänge.
Die Bienen fliegen tagein tagaus mit ihren gesammelten Blütenpollen und Nektartöpfchen durch diese Eingänge durch und liefern ihren Ertrag an die anderen Arbeiterinnen ab, so dass dieser zu Wachs und Honig verarbeitet werden kann.
Ich funktioniere etwas anders:
Mein Bienenstock hat nicht 3, sondern 12 Eingänge.
Das bedeutet, dass in der gleichen Zeit 4 mal so viele Bienen in den Stock strömen.
Allerdings kann pro Bienenstock immer nur die gleiche Anzahl von Blütenpollen und Nektar verarbeitet werden – die Arbeiterinnen, die den Ertrag entgegennehmen, arbeiten in beiden Bienenstöcken auf die gleiche Art und Weise.
Deshalb kommt es in meinem Bienenstock früher zum so genannten Blütenpollenstau 🙂
Das bedeutet, irgendwann können keine Bienen mehr in den Stock fliegen: „Wegen Überfüllung geschlossen“. Zuerst müssen die Bienen im Stock „abgearbeitet“ werden. Erst dann ist der
Bienenstock wieder aufnahmefähig.
Bei deinem Bienenstock kann dies auch der Fall sein, aber dafür müssen die Bienen schneller in deinen Bienenstock fliegen 😉 Und das kann längere Zeit dauern…
Optional (falls mein Gegenüber noch mehr wissen möchte):
So, nun aber zu den verschiedenen Ebenen.
Die 3 Eingänge in deinem Bienenstock sind auf 2 Ebenen verteilt. Auf jeder Ebene wird eine andere Art von Blütenpolle abgegeben. (akustische und visuelle Reize)
Die 12 Eingänge in meinem Bienenstock sind auf 4 Ebenen verteilt. (akustische, visuelle, empathische und olfaktorische Reize, was auch immer)
Der Honig, der bei mir rauskommt, ist also aus einer größeren Vielfalt zusammengesetzt. Er schmeckt nicht unbedingt besser, aber er schmeckt anders.
Durch die Kombination dieser verschiedenen Blütenpollen bzw. Informationen bekomme ich so einen noch ganz anderen Eindruck von der Situation, in der ich mich gerade befinde, den andere einfach nicht sehen bzw. schmecken.
Bsssssssssssssssssssssssssssss…
So – genug herumgesummt für heute. Falls ihr meinen Erklärungen und Ausführungen noch etwas hinzufügen möchtet, gerne weiter unten im Kommentarbereich.
Liebe Grüße und noch einen schönen Sonntag-Nachmittag,
Julia
PS.: HS-Coach Anne-Barbara Kern über das Outing ihrer Hochsensibilität
PPS.: The Happy Sensitive: How to get Others to understand your HS?