…nun, das bin ich!
Anlass, diesen Beitrag zu schreiben, gab mir ein Bekannter, dem ich von meiner Hochsensibilität erzählt habe. Er wunderte sich sehr, warum ich mich überhaupt mit diesem Etikett behaften würde? Warum ich mich in diese Schublade einordnen würde? Denn ich bin ich – in meiner Gesamtheit. Das stimmt wohl auch – aber irgendetwas rumorte in mir drinnen. Warum versteht dieser Mensch meine Gedanken nicht? Mich in die Schublade der Hochsensibilität zu stecken hat mir geholfen, meine wirklichen Bedürfnisse zu erkennen – zu erkennen, was ich wirklich brauche. Zu erkennen, wie ich selbst ticke, wieso ich so bin wie ich bin und warum ich in früheren Situationen anders reagiert habe als andere. Mein Selbstverständnis ist durch die Erkenntnis hochsensibel zu sein, enorm gestiegen. Und ich habe gelernt, mir selbst zu verzeihen wenn etwas mal nicht so klappt wie es sollte. In mir kam ein Stein der Selbstakzeptanz ins Rollen – hey, du bist nicht mehr allein, es ist gut so, wie du bist und es ist gut so, wie du schon immer warst. Dies tröstet einen ungemein – und das tut unwahrscheinlich gut. Das ist der sogenannte Gebirgsketteneffekt bei Hochsensiblen, wenn einem durch die Erkenntnis der Hochsensibilität hunderte Steine vom Herzen fallen.
Ich bin das Chamäleon und ich hänge irgendwie in der Schublade Hochsensibilität fest. Irgendwie. Denn im Laufe des Tages muss ich noch in andere meiner Schubladen klettern – je nachdem, mit welchem anderen Schubladenkonstrukt (der Mensch mir gegenüber) ich es zu tun habe, wechsle ich auch meine Farbe. Mal werde ich rot, grün, gelb, quietschgelb, bunt und natürlich blau 🙂 Aber im Moment klettere ich noch recht oft in die Schublade der Hochsensibilität zurück, da ich dort immer noch sehr viel Neues und Interessantes erfahre. Und auch Dinge weitergeben kann.
Da ich multipassioniert bin, habe ich selbst relativ viele Schubladen konstruiert, um meine Mitmenschen einordnen zu können – das denke ich zumindest. Und ich denke auch, dass ich eine Schublade habe, auf der gar nichts draufsteht. Das ist eine Art generische Schublade wenn ich nicht weiß, wie ich eine gewisse Eigenschaft eines anderen einordnen kann, von der ich noch nicht allzu viel weiß oder ich sie vorher nicht kannte. Dann kann es sein, je mehr dieser Leute mit der Eigenschaft ich treffe oder je länger ich mit diesem Menschen zu tun habe, dass ich mir eine neue Schublade baue, die z.B. heißt „Gedankenverschwurbler“ (danke Sabine für dein kreiertes Wort). Oder „Wasserverabscheuer“. Oder „erdgasbetriebene-Autos-Liebhaber“. Was auch immer.
Das Gute an diesen Schubladen ist, dass ich ungefähr weiß, wie ich meine Farbe wechseln muss, um mit diesem Menschen zu kommunizieren. Je nachdem, wen ich vor mir habe weiß ich, welchen Ton ich anschlagen kann, in welcher Lautstärke ich rede, ob ich hochdeutsch oder im Dialekt sprechen kann, ob ich wild gestikulieren kann oder am besten reizarm spreche, ob ich blumig oder trocken rede, ob ich witzig sein kann oder eher ernsthaft. Warum die Farbe wechseln? Nun, ich wechsle nicht immer die Farbe. Sehr oft bin ich einfach nur blau. Blau das bin ich. Aber je nachdem, mit wem ich zu tun habe und welches Ziel ich erreichen möchte kann es sein, dass ich kurzfristig wechseln muss. Das Wechseln der Farbe erleichtert die Kommunikation um ein Vielfaches. Und ich merke immer mehr, dass sich Menschen wohlfühlen, wenn sie mit mir zu tun haben bzw. mit mir reden – sofern es mir gut geht und ich mich nicht in der Überstimulation befinde 😉
Ich erkenne nach einer gewissen Zeit, welches Schubladenkonstrukt mein Gegenüber besitzt (das meine ich zumindest, und ich habe das Gefühl, dass ich das besser kann als manch anderer, hüstel) und kann mit dem Wechseln meiner Farbe diese Schubladen bedienen. Das hat zur Folge, dass sich mein Gegenüber mir öffnet – er versteht mich, ich verstehe ihn. Ich kann viel mehr aus den Leuten herausholen und Interessantes erfahren, wenn ich ihre Sprache spreche. Ich erkenne – zumindest ungefähr – welches Bedürfnis mein Gegenüber gerade verspürt bzw. welche Talente ihn ausmachen. Und manchmal hilft es auch einfach nur zuzuhören – kurz Rückfragen, um das Schubladenkonstrukt vom anderen in mir selbst zu justieren – oder einfach nur da zu sein. Achtung: Das Ganze hat nichts damit zu tun, dass ich mich selbst verbiege für andere. Das wäre Selbstverrat.
Tja, welches ist nun aber meine eigene Sprache? Diese gibt es tatsächlich. Und ich habe auch eine Grundfarbe. Blau. Aber diese Eigenschaften von mir kennen nicht viele. Denn viele Menschen hören nicht zu, sie wollen irgendwelche Dinge erreichen, ihre Bedürfnisse befriedigen, was auch immer… Aber die wenigsten haben ein Interesse daran zu erfahren, wer und wie ich wirklich bin. Das macht mich allerdings in keinster Weise traurig und soll jetzt auch nicht negativ oder abwertend daherkommen – denn oft brauche ich etwas Zeit um mich tatsächlich zu öffnen und für manche bin ich dann einfach doch zu tiefgründig und gedankenverschwurbelt 🙂
Glücklicherweise erkenne ich andere Chamäleons, oder auch andere Echsen, die ihre Farbe nicht wechseln aber trotzdem interessiert sind, mittlerweile recht gut. Und ich öffne mich immer schneller diesen Menschen gegenüber, ich kann mich immer besser artikulieren indem was mich ausmacht – und da bin ich mittlerweile wirklich stolz drauf. Zumindest ist das meine eigene Beobachtung, es schauen viele nicht mehr ganz so verdutzt wenn ich von Schubladen spreche, die sie gar nicht kennen („wie, du hast keinen Fernseher?!?“ – da rattert es dann in den Schubladen 😉 ). Liegt vielleicht auch am Türkis oder am Hellblau, welches ich dann gerade angenommen habe. Wirklich tiefblau erleben mich nur die wenigsten. Ich glaube, nur andere Chamäleons (Soul Mates, Kindred Spirits, …) sehen mein wirkliches Blau. Interessant, oder?
Das Wechseln zu einer anderen Farbe kostet Energie – je länger ich in einer anderen Farbe verweile, desto länger bin ich von mir selbst entfernt und desto erschöpfter und ausgelaugter fühle ich mich (irgendwie ähnlich dem Ring in „Der Herr der Ringe“). Ich muss dann wieder in meine blaue Welt zurück und auftanken. Die Erkenntnis, dass es eine blaue Welt gibt, und dass diese für mich stimmig ist, habe ich Elaine Aron zu verdanken. Sie hat die Schublade der Hochsensibilität konstruiert. Auftanken: Am besten für mich alleine oder mit anderen Chamäleons. Denn sobald um mich herum etwas geschieht, sind meine Sinne geschärft und ich muss schauen, ob ich die Farbe wechseln muss. Aber wieso denn die Farbe wechseln? Sei doch einfach du selbst! Tja – wenn ich genau dies tun würde, dann würden sämtliche Schubladenkonstrukte der „Normalos“ (was auch immer „Normal“ bedeutet) über mich gestülpt werden. Wie hättet ihr mich denn gerne? Schubladenkonstrukt A. Oder Schubladenkonstrukt B?
So erkläre ich mich lieber selbst, indem ich ansatzweise erkenne, welche Schubladenkonstrukte mein Gegenüber hat und versuche, so gut es geht mit diesen zurecht zu kommen und diese zu bedienen, ohne dass ich mich allzu sehr verbiegen muss (da ich meine Bedürfnisse trotzdem noch formuliere, aber in einer anderen Farbe).
Und wenn ich merke, dass mir mein Gegenüber entweder für längere Zeit sein Schubladenkonstrukt überstülpen möchte oder nicht auf meine eigenen formulierten Bedürfnisse eingeht – muss ich Konsequenzen ziehen. Entweder ich gebe nach und entscheide mich bewusst für dessen Schubaldenkonstrukt (was ich niemals tun würde!) oder ich nehme zu diesem Menschen einen großen Abstand und halte mich nur so lange bei ihm auf, wie es tatsächlich nötig ist.
Aber soll ich euch etwas verraten? Im Moment fühle ich mich recht blau, da mir meine Geschichte selbst sehr gut gefällt – ein schönes Gefühl 🙂
Euch alles Gute und bis bald,
Julia
Nachtrag: Vielleicht eignen sich Hochsensible besonders als Vermittler zwischen verschiedenen Schubladenkonstrukten? Hochsensible, die Schubladen-Mapper – hehe 😉 Kein Wunder, warum Hochsensible für das Gruppenklima (wo auch immer) als besonders wertvoll angesehen werden…