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Karfreitag

Gerade lese ich im Buch „Der Fremde in uns“ von Arno Gruen folgende Zeilen:

„So begegnen wir in Peer Gynt der totalen Leere, einer Leere, die er, wie Hitler, mit großen Taten zu füllen glaubte. Am Ende möchte er allem entgehen, kann es aber nicht und trifft so auf den Tod, den Knopfgießer, der zu ihm sagt: ‚Du selbst warst du nie doch – …‘ Worauf Peer Gynt ihn fragt: ‚Was ist dieses <sein, der man ist>?‘ Der Knopfgießer: ‚Sei du selber, das meint: geh dir selbst an den Kragen.‘ …“

Diese Worte passen auf den heutigen Tag wie die Faust aufs Auge, oder eben wie Jesus ans Kreuz.

Karfreitag erinnert mich daran, dass es von großem Wert ist, meinem eigenen Schmerz zu begegnen. Erst recht in Momenten, in denen es im Außen recht chaotisch zugehen mag…

Ich erinnere mich an eine Bibelstelle, die für mich immer mehr Sinn zu machen scheint (obwohl ich bibeltechnisch überhaupt nicht versiert bin – ich habe allerdings seit einiger Zeit eine wunderschöne Bibel zuhause liegen – vor allem wegen der darin enthaltenen Chagall-Bilder ;-))) – Stichwort: Hochsensibilität und das Denken in Bildern):

„Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ – das hört sich nach einer 180-Grad-Wendung an. Von einem „von Außen nach Innen leben“ zu einem „von Innen nach Außen“. Und genau das kann mit großem Schmerz verbunden sein. Trennungsschmerz, weil ich Gewohntes loslasse oder der Schmerz darüber, wo ich erkenne, dass eine Lüge früher mal Wahrheit war.

Die 180-Grad-Wende eines großen Schiffes auf offener See kostet viel Kraft – aber sie richtet den Fokus wieder zurück auf den inneren Kompass. Gerade in der heutigen Zeit ist es wichtig, ein Bewusstsein darüber zu bekommen, was die Situationen im Außen mit einem selbst machen. Wahrnehmen, wie sich die menschlichen Begegnungen ändern und wie sie uns selbst verändern. Wieder lernen, zu empfinden. Was fühle ich wirklich?

In diesem Sinne: Einen schönen Karfreitag uns allen!

Liebe Grüße, Julia

PS.: Warum heißt es eigentlich Eva-ngelium und nicht Adam-elium?

PPS.: Das für mich Schönste am Wort ‚Schmerz‘? Es enthält ein anderes Wort. Nämlich das… 😉

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Eine interessante Erfahrung

Sie nannten es liebevoll das Stockspiel.

Für mich hörte sich das zunächst recht ruppig, kantig und eckig an. Ein Spiel mit einem Stock. Aha. Da geht man doch erstmal am Stock… k k k…

Vor ein paar Wochen war ich in Stuttgart bei einem Seminar für GfK (Gewaltfreie Kommunikation). Das Stockspiel hat mich im Nachhinein so einiges gelehrt und taucht noch jetzt in einigen Situationen meines Alltags auf. Es hat sich sozusagen irgendwo in meinem Gehirn verankert. Ganz fest. Und das ist gut so 🙂

Jeder der ca. 30 Teilnehmer bekam einen Holzstock, der ca. einen Meter lang und 2 cm dick war. Zuerst durfte man sich mit diesem „anfreunden“. Alle 30 Teilnehmer standen im Raum verteilt, die Stühle und sonstiges waren beiseite gerückt.

Klackerdiklack… Ja – war man unachtsam, so fiel ein solcher Stock auch mal zu Boden 😉

Danach ging man mit dem Stock von der einen zur anderen Hand werfend durch den Raum und musste einfach nur aufpassen, dass man keinen anderen umrempelte, der da auch mit seinem Stock unterwegs war. Die Laufgeschwindigkeit wurde variiert, zuerst langsam, am Ende dann ganz schnell durch die Meute hindurch.

Das waren alles nur Übungen zum Aufwärmen 😉

Nun wurden 2 gegenüberliegende Reihen gebildet, die sich anschauten. Ich hatte also mein Gegenüber, einen Nachbarn links und einen rechts. Das ganze war recht kuschelig – der Abstand zu links und rechts war nicht ganz so großzügig… Nun durften wir Kontakt zum Gegenüber aufnehmen und uns die Stöcke in vertikaler Haltung zuwerfen. Erst gleichmäßig aufeinander einschwingend. Bis zum Ende hin unerwartet und auch antäuschend. Kommt der Stock jetzt oder kommt er nicht? Werfe ich ihn oder werfe ich ihn nicht? Haha, das war meins 😉 Es kam aber noch sehr viel lustiger…

Mit jeder Übung rückten die Personen der einen Reihe einen Platz weiter und so bekam man jedes Mal einen neuen Partner. Nun sollten wir uns wieder die Stöcke zuwerfen – aber dabei schön schauen, ob die Nachbarn links und rechts noch da sind. Sie also zusätzlich noch kurz anrempeln oder mit der Hand anstubsen und aktiv fragen, ob sie noch da seien – mit Antwort geben natürlich. Das i-Tüpfelchen war dann noch, dass hinter unserer Reihe 3 „Helfer“ unterwegs waren, auf die wir achten und immer in der Wahrnehmung haben sollten. Ansonsten wurde man erschreckt.

Also: gleichzeitige Aufmerksamkeit auf 1) mich selbst, 2) auf meinen Partner und den Stock, 3) auf die Nachbarn links und rechts, die man anhaute und von denen man angehaut wurde und 4) auf die Erschrecker, die ab und an mal vorbeilauschten. Einmal konnte man mich tatsächlich erschrecken. Diese Übung war perfekt. Warum? Weil mir bewusst wurde, wie eng manchmal mein Wahrnehmungshorizont im Alltag ist. Wie sehr es sich lohnen kann, auch mal das Wahrnehmungsfeld zu ändern und eine Weite zuzulassen. Das befreit irgendwie und lässt andere Perspektiven zu 🙂 Nicht zu lange und steif zu sehr im Innen oder Außen zu verweilen. Sondern aktiv unterschiedliche Perspektiven einnehmen – ganz einfach, tänzelnd, spielerisch, locker. Mit Freude und Begeisterung geht es wirklich leichter…

Diese Übung war für mich sehr einprägsam. Nicht nur, weil sie mich an die Grenzen meiner Wahrnehmung brachte – nein, auch weil mir der Stock von der Nachbarin rechts auf meinen linken Fuß fiel. Autsch! Ein paar Tage später hatte ich diesen Vorfall vergessen – und wunderte mich über einen blauen Fleck am großen Fußzeh – die Erinnerung kam dann aber irgendwann. Und ich musste grinsen 😉 Ah ja, das war tatsächlich der Stock… Wieso sollte man sonst einen blauen Flecken am Zehen davontragen? Doof! Dauert ja ewig, bis der wieder weg ist. Aber auch irgendwie lustig… Der bleibt jetzt noch eine Weile bei mir, der blaue Fleck.

Die letzte Übung war für mich wohl die lehrreichste. Wir sollten dieses Mal versuchen, wenn 2 Partner ihre beiden Stöcke austauschen, also hin- und herwarfen, ihnen das Spiel etwas verderben und dazwischengehen. Das Spiel in irgendeiner Art und Weise vermiesen. So das Szenario. Eigentlich sollte man sich so verhalten, wie man sich normalerweise nicht verhält. Damit man mal spürt wie es ist, die „Seite“ zu wechseln. Also in einer Dreier- oder was auch immer Formation ungewohnte Verhaltensweisen einüben.

Nun ja – das habe ich gemacht. Ihr werdet euch jetzt fragen, was ich genau gemacht habe. Ich habe mir vorgenommen, 2 Spielenden einen Stock wegzunehmen und einfach weiterzulaufen. Das habe ich gemacht. Hatte dann 2 Stöcke in der Hand, drehte mich weg, war voll auf mich selbst konzentriert und erwartete, dass mir sofort jemand hinterherlief und den Stock einforderte. Was geschah? Nichts!!! Es geschah nichts. Ich lief weiter, wunderte mich kurz und weiter ging es in der Stöckesammlung. Es wurde immer lustiger – denn die Leute der nächsten Gruppe hatten schon alle einen verschmitzten Blick drauf, als ich dann mit 3 Stöcken ankam… Etwas doof kam ich mir dann schon vor. Aber irgendwie machte das Spaß. Beim 4. Stock wurde mir dann doch langweilig. Alleine mit 4 Stöcken… Na toll. Ich wollte wieder spielen. Etwas spielerisch freudiger Kontakt wäre dann doch nicht ganz so übel…

Diese Übung hat mir etwas zu denken gegeben. Ende der Geschichte.

Tipp: Deutschlandfunk berichtet über Hochsensibilität…

…in einem Podcast (vom 15.01.2017, 54 Minuten) als auch in nachlesbaren Manuskripten.

Dem Deutschlandfunk ist ein für mich sehr wohltuender und gelungener Rundumschlag zum Thema Hochsensibilität gelungen (nur bis zum 22.01.2017 hörbar).

Sehr gut finde ich das Gesamtformat des Podcasts, die unterschiedlichen Stimmen und Empfindungen von Hochsensiblen, die vielfältige Beleuchtung des Themas aus vielen Perspektiven, die große Sorgfalt bei der Recherche ist spürbar. Ganz witzig finde ich zwischendurch die Musiksequenzen, die einen an die 70er Jahre erinnern 😉 Ein sehr heiterer aber doch tiefgründiger Podcast.

Hervorzuheben sind auch die Kommentare von Rolf Sellin, einem Heilpraktiker für Psychotherapie, mit eigenem HSP-Institut in Stuttgart. Seine Art zu Sprechen, die Modulation finde ich sehr angenehm und passend – und die „nnnnn’s“ finde ich manchmal dann auch schon sehr amüsant 😉 Und man bekommt gute Tipps mit, wie man mit seiner Hochsensibilität besser im Alltag und in der Familie zurechtkommt.

Was für mich persönlich sehr wichtig ist und auch im Podcast rüberkommt ist, dass beide Strategien – sowohl die der Normal- als auch Hochsensiblen – ihre Daseinsberechtigung haben und dass eine gesunde Mischung beider Formen die Gesellschaft am besten voranbringt.

Der Podcast beleuchtet sehr viele Lebensaspekte, wie z.B. Hochsensibilität in Kontext mit dem eigenen Innersten, der Arbeit, der Familie (z.B. fließen hochsensible Eltern zu sehr aufs Kind über und sind nur noch ganz wenig bei sich selbst), der Psychologie/Wissenschaft und der noch fehlenden Neubewertung von psychischen Störungen.

Ein neuer Aspekt bot mir die Erkenntnis der Wortlosigkeit von Hochsensiblen in frühen Jahren. Das war bei mir genauso. Man fühlt zwar unzählige Dinge, weiß aber nicht mit ihnen umzugehen, sie zu benennen, wie z.B. Trauer, Ratlosigkeit, … oder gar mit anderen Menschen darüber zu reden.

Den Abschluss läutet eine schöne Szenerie nach Feierabend in einem Café ein, wo sich ein Hochsensibler zu entspannen versucht und das Pärchen nebenan sein Getränk mit Röhrchen schlürfend genießt – „Ich gebe Ihnen jetzt 5 Euro und Sie hören endlich mit dem Geröchel auf!“ 😉 Hihi… (Falls ihr den Podcast gehört habt – könnte es sich hierbei um die Berliner Weisse gehandelt haben?)

Sehr weise Worte eines Schriftstellers darüber, dass am Ende jeder selbst mit seinen Empfindungen klarkommen muss und nicht alles an die Umwelt abladen kann. „Die Restbestände vom Vortag sind dann recht halbkomödiantisch – was habe ich denn gestern für ein komisches Zeug im Kopf herumgetragen?“

Ein großer Dank an Sabine Fringes für den überaus gelungenen Podcast!

Das einzige, was mich gestört hat war, dass der Begriff der EmpfindLICHkeit benutzt wird – ich fände EmpfindSAMkeit viel treffender. Empfindlich sein ist meiner Meinung nach ein eher negativ belegtes Wort. Empfindsamkeit geht da mehr in Richtung Wahrnehmung und Feinfühligkeit. Aber vielleicht seht ihr das ja anders – Kommentare eurerseits sind sehr willkommen 🙂

Weiterhin fehlt mir noch die Differenzierung dahingehend, dass es sehr wohl Hochsensible gibt, die z.B. kein Problem mit Kassen im Supermarkt haben. Meiner Meinung nach wird noch zu wenig auf die unterschiedlichen Ausprägungen von Hochsensibilität eingegangen – die Generalisierung einzelner Punkte kann zur Nicht-Akzeptanz des Themas bei Betroffenen als auch dem Umfeld führen.

Aber das nur am Rande. Die letzten genannten Punkte sollen die Arbeit von Sabine Fringes keineswegs schmälern – sie hat die Komplexität des Persönlichkeitsmerkmals der Hochsensibilität ganz wunderbar eingefangen und ich hoffe, dass sich viele von euch den Podcast anhören.

Liebe Grüße und einen schönen Abend wünscht Euch
Julia